Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf mahnt im Interview mit GMX/Web.de umfassende wirtschaftspolitische Reformen an:
Herr Wolf, im Wahlkampfendspurt spricht Deutschland nur über ein Thema: die Migration. Verwundert Sie das?
Auf der einen Seite ja, auf der anderen nicht. Denn es ist ein Thema, das die Menschen bewegt. Wir haben in letzter Zeit fürchterliche Anschläge erlebt. Erst in dieser Woche ist wieder ein Auto in München in eine Menschenmenge gerast. Wir brauchen schnell eine Lösung bei der Migrationsfrage. Denn es gibt auch noch andere drängende Themen. Die wirtschaftliche Lage ist schlecht, wir befinden uns im dritten Rezessionsjahr und die Arbeitslosigkeit bewegt sich wieder in Richtung drei Millionen.
Was läuft falsch?
Viele Fehler sind in der Vergangenheit gemacht worden, allen voran in den letzten acht Merkel-Jahren, aber auch danach von der Ampel. Zu lange haben wir uns auf drei Dinge verlassen: Billige Energie kommt aus Russland. In China machen wir gute Geschäfte. Und die Amerikaner garantieren unsere Sicherheit. All das hat sich geändert. Und die Ampel hat daraus nicht die richtigen Schlüsse gezogen.
Welche wären das?
Es hätte auch eine Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik gebraucht. Dazu gehört eine Steuerreform mit niedrigeren Sätzen für Unternehmen. Dazu gehört die Deckelung der Sozialversicherungsbeiträge bei 40 Prozent. Dazu gehört das Thema Entbürokratisierung und vor allem eine vernünftige Energiepolitik. Deutschland ist aktuell weder für Unternehmen noch für Fachkräfte attraktiv. Ein hochqualifizierter IT-Spezialist aus Indien geht lieber in die Schweiz oder in die USA. Das hat auch mit der Einkommenssteuer zu tun, die dort niedriger ist.
Der Bundeskanzler fand lange: „Die Klage ist das Lied des Kaufmanns“.
Ich bin ein zahlenorientierter Mensch. Und unsere volkswirtschaftliche Leistung liegt Ende des Jahres vermutlich noch immer unterhalb des Niveaus von 2018. Gleichzeitig steigen für die Unternehmen überall die Kosten, bei Lohn, Material, Energie, Sozialversicherungen. Das setzt massiv zu. Dass ein Bundeskanzler davor die Augen verschließt und dies als „Lied des Kaufmanns“ abtut, ist schlicht überheblich.
Im Wahlkampf haben alle Parteien Steuererleichterungen und Bürokratieabbau versprochen. Sie könnten zufrieden sein, oder?
Es gibt zumindest Vorschläge, die in die richtige Richtung gehen. Ich möchte daran erinnern: Das letzte wirklich gut funktionierende Wirtschaftsprogramm war die Agenda 2010 – von einem SPD-Kanzler. Gerhard Schröder hat dafür sein Amt riskiert. Es ging ihm ums Land. Das braucht es auch heute wieder. Es ist kein Geheimnis, dass ich die wirtschaftspolitischen Ideen von Friedrich Merz und Christian Lindner gut finde. Doch auch die SPD sollte sich besinnen. Die Bundestagswahl 2029 wird am 23. Februar 2025 entschieden: Wenn die Parteien der Mitte die Probleme nicht lösen, drohen uns in vier Jahren österreichische Verhältnisse. Das will niemand.
Der wirtschaftsliberale britische Economist meint: Auch die Schuldenbremse ist längst zum Wachstumshemmnis geworden.
Sicherlich kann man bei strikter Beibehaltung der Schuldenbremse über zusätzliche Sondervermögen nachdenken, etwa in den Bereichen Digitalisierung oder Infrastruktur. Das gehört auch zur Wettbewerbsfähigkeit. Aber das darf erst ganz am Ende stehen, wenn man alles andere versucht hat. Erst mal muss man priorisieren und sparen. Wenn ich mich dem verweigere, helfen mehr Schulden auch nicht. Ich warne aber davor, die Schuldenbremse aufzuweichen. Am Ende ist es so: Auch Sondervermögen sind Schulden. Sie können punktuell sinnvoll sein, dürfen aber nicht dazu führen, dass nur noch Kredite aufgenommen werden. Dafür müssen nämlich kommende Generationen aufkommen.
Welche Fehler hat die Industrie gemacht? Um die Automobilindustrie zu nehmen: Volkswagen hat es bis heute nicht geschafft, ein günstiges, massentaugliches E-Auto auf den Markt zu bringen.
Ich war schon immer ein Verfechter der Technologieoffenheit. Dazu gehören Elektroautos, Hybridfahrzeuge, der klassische Verbrenner und CO2-neutrale Verbrennungsmotoren. Gerade beim Verbrenner sind wir Weltspitze. Auch über Wasserstoff sollten wir nachdenken. In Teilen der Automobilindustrie wurde das in der Vergangenheit anders gesehen – und ich habe das immer für einen Fehler gehalten.
In der EU dürfen allerdings ab 2035 keine Autos mit Benzin- oder Dieselantrieb mehr zugelassen werden.
Ich bin dafür, das zu korrigieren. Ein festes Datum führt zum Absturz der Industrie. Wir sollten nicht einfach eine Technologie aufgeben, bei der wir Weltmarktführer sind. Zumal es auch Alternativen braucht. Um beim Beispiel Elektro zu bleiben: Der Ausbau der Ladeinfrastruktur benötigt Zeit. Solange die Rahmenbedingungen nicht stimmen, fragen die Kunden keine Elektroautos nach.
In den USA sitzt mit Donald Trump ein Präsident im Weißen Haus, der mit Zöllen und Handelskriegen droht. Für die exportorientierte deutsche Industrie ist das Gift. Was tun?
Das ist ein riesiges Problem. Die globale Wirtschaft basiert auf Handelsbeziehungen. Zölle bringen dieses System aus dem Gleichgewicht. Und langfristig hat sich Protektionismus nie ausgezahlt. Auch in den USA fallen Arbeitsplätze weg, weil Unternehmen da produzieren, wo es für sie am günstigsten ist. Es hilft nichts: Wir müssen mit Trump das Gespräch suchen. Er will ernstgenommen werden. Er will respektiert werden. Und ich glaube, dass ein vernünftiges Gespräch in den Handelsbeziehungen etwas bringt. Auf jeden Fall mehr als ein Konfrontationskurs.
Es ist wahrscheinlich, dass Deutschland bald wieder von einer Großen Koalition regiert wird. Wenn Sie drei Wünsche freihätten: Welche wären das?
Das sind Dinge, die ganz schnell und einfach gehen. Ich habe das Thema Bürokratie bereits genannt. Sie können das Lieferkettengesetz abschaffen genauso wie die Datenschutz-Grundverordnung, die viel Geld kostet. Das Zweite wäre eine Steuerentlastung für die Unternehmen. Wir haben nach Japan die weltweit höchsten Unternehmenssteuern. Und das Dritte ist das klare Bekenntnis, dass die Sozialversicherungsbeiträge bei 40 Prozent gedeckelt werden. Wenn ich noch einen vierten Wunsch äußern dürfte: mehr Realismus in der Energiepolitik. Dazu gehört auch, darüber nachzudenken, in eine neue, kompakte Generation von Atomkraftwerken einzusteigen – so, wie es übrigens viele Länder weltweit machen.