Gastbeitrag von Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf in der WirtschaftsWoche über den Ukraine-Krieg, die Herausforderungen beim Strukturwandel und (Tarif-)Politik aus dem Elfenbeinturm:
Neulich habe ich mit einem renommierten Volkswirt diskutiert. Er fordert ein Gasembargo – und auf meine Frage, wie ich dann produzieren soll, riet er mir lapidar, die Produktion in mein Werk nach Mexiko zu verlagern. Ich kann verstehen, dass man angesichts der Bilder aus Butscha und Mariupol das Gefühl der Machtlosigkeit nicht mehr aushält, dass man etwas tun will. Laut einigen Ökonomen sei ein Embargo kein Problem: Die Einbrüche seien verkraftbar, wenn überhaupt, würden sie so groß wie die Verluste während der Pandemie – und die habe man ja auch gut überstanden. Und ansonsten könne man ja – siehe oben – die Produktion verlagern. Bei allem Respekt: Mehr Elfenbeinturm geht nicht.
Maschinen, Produktionsprozesse und Mitarbeiter sind keine beliebig verschiebbaren Rechengrößen. Und der Verweis auf die bewältigte Pandemie kann nur von Menschen kommen, die ihr Gehalt vom Staat beziehen – oder von ihrer privaten Universität. Zumal die Pandemie noch gar nicht vorbei ist: In unserer Branche liegt das Produktionsniveau heute um 12,5 Prozent unter dem Niveau von 2018. Bei der Beschäftigung stehen wir aber nur um 2,8 Prozent unter 2018. Die Unternehmen wollen ihre Beschäftigten halten. Dabei hat Kurzarbeit geholfen, aber die Kapazitäten aufrechtzuerhalten kostet trotzdem sehr viel Geld. Nach über drei Jahren mühsamer Beschäftigungssicherung ist die Ausgangslage eine völlig andere als vor Beginn der Pandemie – wer das nicht verstehen will, ist im Elfenbeinturm auch besser aufgehoben.
Im Verbund der Metall- und Elektro-Industrie werden 20 Prozent aller deutschen Steuereinnahmen erwirtschaftet, zudem 28 Prozent aller Sozialversicherungsbeiträge. Ein Einbruch der Industrie schlägt sich schnell auch auf den finanziellen Spielraum des öffentlichen Dienstes nieder. Kürzer gesagt: Nur eine starke Industrie garantiert Sicherheit und Wohlstand. Dabei wäre es sehr wünschenswert, weniger von russischem Gas abhängig zu sein. Es war allerdings nicht die Wirtschaft, die die Atomkraftwerke abschalten und die Kohlekraftwerke stilllegen wollte. Auch die Bau- und Genehmigungsvorschriften für Windkraftanlagen und Stromtrassen stammen nicht aus der Industrie.
Lieferprobleme bei Halbleitern und Rohstoffen haben uns schon vor dem Krieg ausgebremst. Gleichzeitig holen international viele Länder mit großen Schritten auf. Hinzu kommt, dass viele Kunden – auch hierzulande nur Preise akzeptieren, zu denen man am Standort Deutschland nicht produzieren kann. Dringlicher denn je wird klar: Deutschland braucht einen Aufbruch.
Wir müssen Wertschöpfungsketten neu denken. Nach geschlossenen Grenzen in Europa, Lockdowns in wichtigen Industriezentren Asiens, dem Ausfall der Ukraine als Standort und den Sanktionen gegen Russland haben wir einen neuen Faktor im Spiel: Die Resilienz. Dabei wird es keine Rückabwicklung der Globalisierung geben. Die Kunden unserer Industrie sind auf der ganzen Welt zu Hause. Und Wettbewerber auf der ganzen Welt sind uns auf den Fersen. Nach den Erfahrungen mit ausfallenden Lieferketten wird allerdings das eine oder andere Unternehmen auch wieder Produktion in der EU ansiedeln wollen.
Aus einem solchen Strukturwandel folgen dann neue Geschäftsmodelle, Produkte, Prozesse und Wertschöpfungsketten. Das heißt: es stehen grundsätzliche Standortentscheidungen an – und hier gibt es Trümpfe, die für Deutschland sprechen: Wir sind das Land der Hochtechnologie, der Qualitätserzeugnisse und der Ingenieurkunst, der langfristig denkenden Unternehmer und der motivierten Arbeitnehmer.
Wir haben in Deutschland schon frühere Strukturwandel bewältigt. Wir haben Erfahrung, Tradition, eine weltweit renommierte Forschungslandschaft, top ausgebildete Beschäftigte und eine gute Infrastruktur. Und deutsche Unternehmen haben ihrem Heimatstandort trotz aller Kosten- und Verwaltungsnachteile auch immer aus innerer Haltung die Treue gehalten. Für sie ist Deutschland nicht nur ein Standort unter vielen. Sie kennen ihre Beschäftigten, die teilweise schon in mehreren Generationen für sie arbeiten und sie sind tief in ihrer Region verwurzelt.
Aber wer den Aufbruch will, darf sich nicht selbst belügen. Soll er gelingen, braucht es mehr als eine glorreiche Vergangenheit und ein paar warme Worte. Die gesellschaftliche Verankerung der Industrie, ausreichend verfügbares Arbeitszeitvolumen und wettbewerbsfähige Produktionskosten – einschließlich der sicheren Versorgung mit bezahlbarer Energie. All das sind handfeste Faktoren, die über Investitionen entscheiden.
Arbeitgeber, Gewerkschaften, lokale, regionale und nationale Politik: Wir alle sollten gemeinsam darüber beraten, was wir dafür tun können, damit möglichst viele Investitionsentscheidungen zugunsten Deutschlands fallen und die Fabriken von Tesla in Grünheide und Intel in Magdeburg keine Ausnahmen bleiben.
Wenn wir klimafreundliche Technologien zu Preisen produzieren, die mit den klimafeindlicheren Alternativen konkurrieren, können wir auch im 21. Jahrhundert weiter eine global führende Industrienation sein – nicht nur für den Wohlstand, sondern zuerst für Klimaschutz, Freiheit und Demokratie. Lasst uns gemeinsam die Weichen dafür stellen – dann können wir uns auch Grundlagenforschung in Elfenbeintürmen leisten.
Erschienen in der WirtschaftsWoche vom 29. April 2022.