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„Ohne viel Engagement werden wir den Wohlstand in Deutschland nicht aufrechterhalten können.“

Wohlstandsgesellschaft

Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf im Interview im Weser-Kurier über den Stellenwert von Arbeit, die Bedeutung einer Ausbildung und die Abkehr vom Leistungsprinzip:

Herr Wolf, was denken Sie, wenn Sie den Begriff Work-Life-Balance hören?

Ich mag den Begriff nicht, weil er impliziert, Work ist schlecht und Life ist gut. Diese Annahme halte ich für grundlegend falsch, denn Leben und Arbeit sind doch keine Gegensätze. Wir verbringen einen großen Teil unseres Lebens am Arbeitsplatz, dort findet gesellschaftliche Teilhabe und Sozialisation statt. Unser Beruf kann uns Erfolgserlebnisse und Freude bescheren. Ich würde mir wünschen, dass Arbeit und Leistung wieder positiver dargestellt werden, als es jetzt der Fall ist. Daran müssen aber nicht nur Arbeitgeber und Verbände mitwirken, sondern auch Familien und Schulen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Glauben Sie, Arbeit hat an Stellenwert verloren?

Das Verständnis hat sich in den vergangenen Jahren zumindest stark verändert. Als ich angefangen habe zu arbeiten, war von Anfang an klar, dass man viel in seinen Beruf investiert. Leistung wurde gefordert und es wurde belohnt, wenn man sich entsprechend eingebracht hat. Ich erlebe auch heute noch viele engagierte junge Menschen, aber es gibt gleichzeitig eine wachsende Anzahl, bei denen sich diese Werte verschoben haben. Arbeit, Karriere und Gehalt sind nicht mehr so wichtig, sondern Dinge wie Freizeit, Familie und Selbstverwirklichung stehen im Vordergrund.

Halten Sie das für verwerflich?

Es gibt viele junge Leute, die in unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen sind und es nicht anders kennen. Aus meiner Sicht müssen wir denen, die weniger arbeiten oder sich vom Staat unterstützen lassen wollen, klar machen, dass dieser hohe Wohlstand nicht von ungefähr kommt und dass er auf der Leistung jedes Einzelnen basiert. Das Niveau, das wir heute haben, ist lange und hart erarbeitet worden. Ohne viel Engagement werden wir den Wohlstand in Deutschland nicht aufrechterhalten können.

Sie kennen die Debatten um Noten in der Grundschule oder die Abschaffung der Bundesjugendspiele. Lernen Kinder heute nicht mehr, dass sich Leistung lohnt?

Ich halte die meisten dieser Diskussionen für maßlos überzogen. Nur, weil ich es in meiner Jugend nicht geschafft habe, jemals eine Sieger- oder Ehrenurkunde zu erhalten, hat mir das nicht geschadet. Im Gegenteil, ich habe mich jedes Jahr wieder angestrengt. Es braucht gerade für Kinder und Jugendliche Leistungsanreize und die Möglichkeit, sich mit anderen zu messen.

Auf einer Ausbildungsmesse in Bayern kamen im Oktober mehr Aussteller als Besucher. Als Rückmeldungen auf Berufswünsche bekomme man überwiegend Antworten wie Fußballprofi oder Influencer. Das ernüchternde Fazit einiger Aussteller: Die Jugend scheint kein Interesse mehr an regulärer Arbeit zu haben, dabei werden dringend Bewerber gesucht. Kennen Sie solche Schilderungen aus der Metall- und Elektro-Industrie?

Wir haben in unserer Industrie nach Corona zunächst die glückliche Situation gehabt, fünf Prozent mehr Ausbildungsverträge abschließen zu können. Das Phänomen, das Sie beschreiben, sehe ich aber natürlich auch. Wir haben bei ElringKlinger jährlich 40 Ausbildungsplätze vergeben, für die es lange mehr Bewerber als Plätze gab. Dieses Jahr konnten wir erstmals nur 36 Stellen besetzen, weil wir davon ausgehen mussten, dass die anderen Bewerber die Ausbildung nicht schaffen werden. Das verdeutlicht, was für wahnsinnige Defizite wir in der Bildungspolitik haben. Unsere Schulen sind heillos unterdigitalisiert. Wir haben veraltete Lehrpläne und -konzepte, die überhaupt nicht mehr das vermitteln, was man heute können sollte. Hinzu kommt die Desorientierung vieler junge Menschen.

Was meinen Sie damit?

Es gibt etliche Studiengänge und Ausbildungen. Gleichzeitig findet noch immer viel zu wenig Berufsorientierung statt, sodass sich mehr und mehr Jugendliche überfordert fühlen und nicht wissen, was sie eigentlich für ihre Zukunft wollen. Es gibt inzwischen Unternehmen, die ein Orientierungshalbjahr anbieten, bei denen man in die Ausbildungsberufe reinschnuppern kann. Von der Metall- und Elektro-Industrie sind wir seit Jahren mit Trucks in ganz Deutschland unterwegs, um Schülerinnen und Schüler über unsere Berufe zu informieren. Das reicht aber nicht aus. Die Schulen und die Bundesagentur für Arbeit müssten viel mehr Berufsorientierung machen und mit Unternehmen kooperieren. Meiner Ansicht nach haben wir zudem viel zu viele junge Leute in der akademischen Ausbildung.

Inwiefern?

Es gibt leider immer noch die Einstellung einiger Eltern, Kinder müssten zwangsläufig studieren. Jeder Dritte aber bricht sein Studium ab. Für viele dieser Studienabbrecher wäre eine Ausbildung vermutlich geeigneter. Das betrifft nicht nur die Metall- und Elektro-Industrie. Wir haben beispielsweise ein eklatantes Nachwuchsproblem im Handwerk. Ich würde mir wünschen, wir würden besser informieren und Ausbildungsberufe wieder wertiger darstellen. Ein gut laufender Malerbetrieb zum Beispiel kann durchaus lukrativer sein als eine Sachbearbeiterstelle nach einem BWL-Studium.

Vor wenigen Tagen hat das Video einer jungen Frau aus den USA auf Tiktok für viel Furore gesorgt. Die 21-Jährige beklagt darin unter Tränen ihre harten Acht-Stunden-Arbeitstage und die Pendelstrecke von zwei Stunden. Sie habe im Grunde kein Leben mehr. Empfinden Sie nachrückende Generationen als weniger belastbar?

Überlastung gab es schon immer, das hat man vielleicht nicht Burnout genannt oder es nicht erkannt, aber das war schon immer da und es ist gut, dass es dafür auch entsprechende Beratungsangebote gibt. Aber zum Burnout führt fast immer auch eine gleichzeitige Überlastung aus dem Privatleben. Ich glaube, ein großes Problem ist mittlerweile die permanente Reizüberflutung, der wir täglich ausgesetzt sind. Wenn wir nicht arbeiten, sind wir am Handy und checken nach der Arbeit bis spät in die Nacht die Sozialen Medien. Das ist anstrengend. Es braucht Ruhephasen, die sich viele Menschen gar nicht mehr gönnen.

Zeigen jüngere Generationen denn tatsächlich so viel weniger Leistungswillen oder müssen sich die Arbeitgeber vielleicht besser auf veränderte Bedürfnisse einstellen?

Es hat sich schon einiges in dem Bereich getan. Vieles an Corona war schlecht, aber die Pandemie hat den Weg in die Digitalisierung beschleunigt und gezeigt, dass mobiles Arbeiten möglich ist und in gewissen Bereichen sogar die Effizienz erhöhen kann. Für die Unternehmen ist es zudem attraktiv, weil man Fläche einsparen kann. Fast alle Unternehmen lassen sich auf diese Entwicklung ein. Was wir in Zeiten des Fachkräftemangels noch stärker in den Fokus nehmen müssen, sind die Themen der qualifizierten Zuwanderung und die bessere Nutzung bereits vorhandener Ressourcen. Wir haben beispielsweise sehr gut qualifizierte Frauen, die aufgrund einer schlechten Kinderbetreuung gar nicht oder nur in Teilzeit arbeiten.

Homeoffice ist das eine, aber viele liebäugeln auch mit flexibleren Arbeitszeitmodellen, wie etwa der Vier-Tage-Woche.

Wenn es unterm Strich bei 40 Stunden in der Woche bleibt, ist das durchaus eine Option, Arbeitnehmern mehr Flexibilität für ihr Privatleben zu verschaffen und das wird von jungen Leuten ja auch bereits gefordert. Dafür brauchen wir dringend eine Reform der antiquierten Gesetzeslage und eine Flexibilisierung der Arbeits- und Ruhezeiten.

Auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall Mitte Oktober hat die neu gewählte Vorsitzende Christiane Benner das Ziel bekräftigt, über die Stahlindustrie hinaus die 32-Stunden-Woche durchsetzen zu wollen. Könnte das ein weiterer Anreiz sein?

Das können wir uns absolut nicht leisten. Wenn ich die Metall- und Elektro-Industrie nehme, haben wir mit 35 Stunden weltweit schon die geringste Arbeitszeit. Wenn wir das noch weiter runtersetzen, wird das unseren Wohlstand massiv gefährden. Bekommen Arbeitgeber für das gleiche Geld noch weniger Leistung, müssen weitere Unternehmen ins Ausland abwandern und wir verlieren Arbeitsplätze, weil wir nicht mehr wettbewerbsfähig sind.

Die IG Metall spricht sich zudem gegen eine Abkehr von der Rente mit 63 Jahren aus. Halten Sie das angesichts der gesellschaftlichen und demografischen Entwicklungen für realistisch?

Ich begrüße die Wahl von Frau Benner und nehme sie als moderne Gewerkschaftlerin wahr, die die Probleme in der Industrie und Gesellschaft durchaus sieht. Bei dem Thema Rente bin ich jedoch anderer Meinung. Wir haben ein massives Fachkräfteproblem und es gibt nicht wenige Menschen, die länger arbeiten wollen. Das sollten wir nutzen und die Bedingungen für sie möglichst attraktiv gestalten.

Potenzial im Kampf gegen den Fachkräftemangel haben sicherlich auch die mehr als 50.000 Jugendlichen, die die Schulen jährlich ohne einen Abschluss verlassen. Wie können wir diese Menschen besser einbeziehen?

Ich finde diese Zahl furchtbar. Das kann sich eine so reiche Gesellschaft wie unsere nicht leisten und das müssen wir schleunigst bekämpfen, indem wir die Gründe dafür besser erforschen und in Schulen und mit anderen Qualifizierungsmaßnahmen massiv dagegenwirken. Oftmals landen diejenigen in irgendwelchen Gelegenheitsjobs oder müssen durch die Sozialkassen aufgefangen werden. Aus meiner Sicht müssten wir so schnell, wie möglich bundeseinheitliche Mindestbildungsstandards einführen, die engmaschiger kontrolliert werden. Die Mindestbildungsstandards in Lesen, Schreiben, Rechnen soll jeder Schulabgänger erfüllen. Jedes Unternehmen hat ein Qualitätsmanagement, nur die Schulen haben keins.

Zum 1. Januar 2024 steigen die Regelsätze im Bereich der Sozialhilfe und im Bürgergeld um gut zwölf Prozent. Der Mindestlohn steigt dagegen nur minimal. Lohnt sich arbeiten überhaupt noch?

Ich halte die Erhöhung des Bürgergeldes für einen riesigen Fehler. Ein Landrat aus Tübingen hat kürzlich vorgerechnet, dass eine vierköpfige Flüchtlingsfamilie in Deutschland etwa 3.500 Euro Sozialleistungen im Monat bekommt. Um diese Summe auf dem Konto zu haben, müssen die Eltern einer erwerbstätigen Familie 5.300 Euro brutto verdienen. Je nach individueller Situation kann es sich in der Metall- und Elektro-Industrie beispielsweise dann in den unteren Gehaltsstufen nicht mehr lohnen, jeden Tag arbeiten zu gehen, und bei uns verdient man schon sehr gut. Der Abstand zum Bürgergeld ist dann einfach zu gering. Es bräuchte eine kräftige Reform, aber dazu fehlt der Ampel leider der Mut.

Welche Maßnahmen schweben Ihnen vor?

Ich bin ein Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft. Der Staat sollte eine gewisse Grundsicherung abdecken, der Abstand für Arbeitnehmer sollte jedoch entsprechend groß sein, damit sich ihr Einsatz lohnt. Dadurch, dass der Staat an einigen Stellen viel Geld verteilt, werden Unternehmen und Arbeitnehmer auf der anderen Seite mit einer hohen Steuerlast und Sozialabgaben belastet. Das macht Deutschland für qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland weniger attraktiv.

Welche Befürchtungen haben Sie, sollten die Entwicklungen weiter voranschreiten?

Wir haben schon jetzt Abwanderungsbewegungen von vielen Unternehmen, die ihre Produktion ins Ausland verlegen. Die werden massiv zunehmen. Wir müssen alles dafür tun, der fortschreitenden Deindustrialisierung entgegenzuwirken. Die Probleme betreffen nicht nur den Personalkostenblock, sondern auch die Energiekosten. Deutschland gehört zu den Ländern, mit den teuersten Energiekosten. Die Unternehmen schauen sich die Rahmenbedingungen genau an, weil sie im Wettbewerb steten, und wenn diese woanders deutlich besser sind, wird eben verlagert. Das kann nicht unser Ziel sein.