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„Wir sind mittendrin in einer Deindustrialisierung“

Wirtschaftskrise und Arbeitsplatzverluste

Interview von Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf mit dem Handelsblatt über die verfehlte Ampel-Politik, die Agenda einer neuen Bundesregierung und Annäherungen an die IG Metall in der Tarifrunde:

Steuern wir in Deutschland auf eine Deindustrialisierung zu?

Wir sind mittendrin in einer Deindustrialisierung. Im Inland wird inzwischen deutlich weniger investiert als im Ausland. In der Chemieindustrie haben sich einige schon aus Deutschland verabschiedet, weil sie sehr energieintensiv ist. Wenn wir nicht schnell den Hebel herumreißen, dann bekommen wir ein Riesenproblem. Denn unser Wohlstand hängt an der Industrie.

Die Zahl der Beschäftigten in der Metall- und Elektro-Industrie sinkt. Ist das schon ein Grund zur Sorge?

Das ist ein absolutes Alarmzeichen. Wir als Unternehmer haben ja nicht nur Verantwortung für Umsatz und Profitabilität, sondern auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und in der Metall- und Elektro-Industrie bieten wir extrem gut bezahlte Arbeitsplätze. Deshalb müssen wir jetzt massiv für Rahmenbedingungen kämpfen, die uns erlauben, einen Großteil dieser Jobs zu erhalten. Wir müssen den Standort stärken!

Trägt die Ampel-Regierung eine Mitverantwortung für die gegenwärtige wirtschaftliche Schwäche?

Die Ampel trägt eine Mitschuld, aber auch die Vorgängerregierung. Kanzlerin Angela Merkel hat sich auf billige Energie aus Russland verlassen und darauf, dass die USA schon für unsere Sicherheit sorgen. Und in China haben wir damals vor allem super Geschäfte gemacht. Dadurch sind die Steuer- und Beitragseinnahmen gesprudelt. Da hat man sich zurückgelehnt und gesagt, es läuft doch alles prima. Das Ergebnis der Versäumnisse lässt sich beispielsweise an der eingestürzten Carolabrücke in Dresden beobachten. Sie zeigt die Verfassung unserer Nation. Wir haben zu wenig in die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts investiert.

Und die Ampel?

Sie ist durchaus mit dem Anspruch angetreten, das Land zu erneuern. Aber wenn ich so was ankündige, dann muss ich am Ende auch liefern. Die Ampel hat nötige Reformen nicht angepackt, weil sich die drei doch sehr unterschiedlichen Parteien im Klein-Klein zerstritten haben.

Trauen Sie der Ampel zu, noch die Kurve zu kriegen? Immerhin liegt jetzt die Wachstumsinitiative auf dem Tisch.

Die Ampel kriegt die Kurve nicht mehr, die Zeit ist viel zu kurz. Vielleicht passiert noch etwas bis Anfang Dezember, dann ist Weihnachtszeit, und danach gehen alle in den Wahlkampfmodus.

Die Union, vor allem die CSU in Bayern, schießt sich momentan sehr stark auf die Grünen ein. Ist das klug, oder verbaut man sich so nicht mögliche Koalitionsoptionen?

Ich halte das für eine sehr gute Strategie, die aus meiner Sicht mit dazu geführt hat, dass die handlungsunfähige Grünen-Spitze zurückgetreten ist. Und wenn die Grünen clever sind, dann sehen sie das jetzt als Chance, sich anders aufzustellen. Die Grünen brauchen einen anderen Politikstil.

Wie denn?

Weniger Dirigismus, der fast schon sozialistische Züge hatte, mehr Pragmatismus – wie in Baden-Württemberg. Dort kümmert sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann um die Unternehmen und er weiß, dass unser Wohlstand nur Bestand hat, wenn man die Industrie stark hält. Wenn die Grünen im Bund diese Lernfähigkeit zeigen, taugen sie irgendwann auch wieder als Koalitionspartner für die Union im Bund.

CDU-Chef Friedrich Merz fordert eine Agenda 2030. Was müsste die denn aus Ihrer Sicht beinhalten?

Als erstes eine Unternehmenssteuerreform, weil sonst hierzulande niemand mehr aus dem Ausland investiert und die inländischen Firmen keinen Spielraum für Investitionen haben. Dann brauchen wir ein klares Bekenntnis, dass die Sozialabgaben wieder bei maximal 40 Prozent eingefroren werden. Und wir brauchen schnell billige Energie. Ich würde mir wünschen, dass die nächste Bundesregierung sagt, wir steigen wieder ein in die Atomenergie und bauen kleine, kompakte Atomkraftwerke.

Das ist schon eine ganze Wunschliste.

Ich bin noch nicht fertig. Wir brauchen eine massive Verbesserung in der Bildungspolitik, weil das Bildungsniveau total abgesackt ist. Und die Regierung muss die ungebremste Migration angehen, die zum Wahlerfolg der rechts- und linksradikalen Parteien beigetragen hat. Und in die Agenda 2030 gehört auf jeden Fall eine neue Form des Bürgergelds. Die Menschen, die morgens ab 5:15 Uhr zur Frühschicht in die Fabrik gehen, müssen wieder das Gefühl bekommen, dass es sich auch lohnt, zu arbeiten und Leistung zu erbringen.

Viele Beschäftigte bei namhaften Industrieunternehmen haben Leistung gezeigt und sind jetzt doch vom Jobverlust bedroht. Glauben Sie, dass die Transformation ohne nennenswerte Arbeitsplatzverluste über die Bühne gehen kann?

Wir werden in der Metall- und Elektro-Industrie vermutlich Arbeitsplätze verlieren. Da müssen wir auch offen und ehrlich mit den Menschen umgehen. Erst wenn die Rahmenbedingungen wesentlich besser sind, geht es mit der Beschäftigung in der deutschen Industrie wieder aufwärts. Es braucht auch Veränderungsbereitschaft.

Was soll das heißen?

Es gibt viele Bereiche, in denen wir zu wenige Arbeitskräfte haben, etwa in der Pflege, im Erziehungsbereich, in der Gastronomie. Ich bin mir bewusst, dass ein Berufswechsel natürlich mit einem gewissen Einkommensverlust verbunden ist, weil wir in unserer Branche mit das höchste Lohnniveau haben. Aber man kann nicht davon ausgehen, dass immer alles so bleibt, wie es ist.

Kommen wir zur Tarifrunde der Metall- und Elektro-Industrie. Sie haben kürzlich gesagt, die Tarifparteien hätten die historische Chance, den Menschen zu zeigen, dass man – im Gegensatz zur Ampel – auch ohne Streit zu vernünftigen Kompromissen kommen kann. Sehen Sie eine entsprechende Bereitschaft bei der IG Metall?

Wir haben in der ersten Verhandlungsrunde eine Bestandsaufnahme gemacht und ich habe den Eindruck, dass die IG Metall weiß, dass wir in einer massiven Krise stecken und dass auch in den nächsten sechs bis neun Monaten kein substanzielles Wachstum stattfinden wird. Und wenn wir bei der Bewertung der Ausgangslage übereinstimmen, ist das schon mal viel wert.

Die IG Metall fordert sieben Prozent mehr Geld. Die Inflationsrate sei zwar gesunken, aber die stark gestiegenen Preise gingen ja nicht wieder zurück, argumentiert die Gewerkschaft. Außerdem müsse der Binnenkonsum gestärkt werden. Ist da nicht was dran?

In unserer Industrie wird jetzt schon sehr gut verdient. Aber die Leute halten ihr Geld zusammen, weil sie Zukunftsängste haben und nicht wissen, ob sie ihren Arbeitsplatz behalten. Die werden Lohnzuwächse nicht unbedingt massiv in den Konsum stecken. Die IG Metall kennt die Lage der Unternehmen genau – außer der Erwartungshaltung ihrer Mitglieder hat sie keine Argumente. Und da ist es auch an ihr, denen reinen Wein einzuschenken.

Die IG Metall will auch die Wahloption zwischen Geld und Freizeit ausweiten. Kommen Sie da zusammen?

In Zeiten des Fachkräftemangels zählt jede Arbeitsstunde. Weniger arbeiten kann da nicht die Lösung sein. Jedoch noch kritischer ist die Lohnforderung. Aber wenn die IG Metall da mit Augenmaß rangeht und wir uns bei der Laufzeit einigen, können wir in dieser Tarifrunde relativ schnell durchkommen. Wir haben Interesse an einem schnellen Abschluss und überlegen, was wir in der zweiten Verhandlungsrunde vorlegen können.

Könnten Sie zur Beschäftigungssicherung in kriselnden Unternehmen wieder über die Viertagewoche reden – wie einst bei VW?

Nein. Und eine Arbeitszeitverkürzung wäre das völlig falsche Signal. Die Menschen müssen eigentlich für das, was sie verdienen, mehr leisten in Zukunft.

Steht die Sozialpartnerschaft angesichts der wirtschaftlichen Situation vor der härtesten Bewährungsprobe seit langem?

Unser Sozialpartner hat erkannt, dass sich die Rahmenbedingungen massiv verändert haben. Es gibt aber immer noch Sozialromantiker, die den Leuten weismachen, dass alles bleiben kann, wie es ist. Aber das entspricht nicht der Lebenswirklichkeit. Veränderungsbereitschaft ist das Wichtigste im Leben.

Käme es nicht gerade in der Krise auf eine gelebte Sozialpartnerschaft an?

Der Umgang mit der IG Metall war immer konstruktiv, auch wenn wir oft unterschiedlicher Meinung waren. Und ich würde auch die Situation in der jetzigen Tarifrunde als konstruktiv beschreiben. Aber zu einer gelebten Sozialpartnerschaft gehören immer zwei. Und man muss sich dann auf das, was man miteinander vereinbart, auch verlassen können. Die IG Metall und Gesamtmetall arbeiten kontinuierlich an Lösungen.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil möchte die Sozialpartnerschaft zu neuer Blüte führen und hat deshalb den Entwurf für ein Bundestariftreuegesetz vorgelegt. Wie finden Sie das?

Ich halte das Gesetz für einen Riesenfehler, weil es den Wettbewerb total verzerrt. Das ist reine Klientelpolitik. Und es ist auch mit Blick auf die Staatskasse kontraproduktiv. Es sollte eigentlich immer der leistungsfähigste und beste Anbieter zum Zuge kommen, und nicht der, der Tariflöhne zahlt.

Was erwarten Sie noch vom Bundesarbeitsminister für den Rest der Legislaturperiode?

Nichts Gutes.